Warum zeigte sich der Independent Buchhandel in der Pandemie so resilient?
Von Dr. Andreas Meyer & Estelle Traxel
Die voranschreitende Digitalisierung und Professionalisierung im E-Commerce stellen die Buchbranche bereits seit einiger Zeit vor große Herausforderungen. Umso mehr überraschte es, dass sich vor allem die stationären Independent Buchhandlungen während der COVID-19 Pandemie resilient zeigten.
Insgesamt waren die Corona-bedingten Umsatzausschläge in der Buchbranche weniger ausgeprägt als in anderen Branchen. Zum Beispiel schlug sich der Buchhandel stationär besser (aber online schlechter) als etwa Handelsunternehmen der Modebranche.
Schätzungen des Börsenvereins des deutschen Buchhandels zufolge verzeichnete der stationäre Buchhandel im Jahr 2020 ein vergleichsweise moderates Umsatzminus von -8,7% im Vergleich zum Vorjahr. Demgegenüber hatte die Modebranche laut Textilwirtschaft im selben Zeitraum einen Umsatzrückgang von -30% im stationären Handel zu beklagen.
Online konnte der Buchhandel zwar ein Umsatzplus verzeichnen, das aber geringer ausfiel als die Steigerung etwa in der Modebranche. Die Umsatzentwicklung im Online-Buchhandel fiel im Corona-Jahr 2020 mit +10,6% nur 3,5 Prozentpunkte höher aus als im Vorjahr mit +7,1%1. Der Online Modehandel hingegen verzeichnete ein Plus von 14,6% im Jahr 20202
Um diese Entwicklung näher zu beleuchten, befragten Studierende des Fachbereichs Buchwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München im Zeitraum von Januar bis März 2021 insgesamt 25 Independent Buchhandlungen und Verlage aus der DACH Region nach ihren Erfolgsgeheimnissen im Umgang mit der Corona-Krise.
Das Ergebnis der nicht repräsentativen Befragung zeigte eine recht hohe Varianz mit Umsatzzuwächsen von bis zu 30% im Vergleich zum Vorjahr 2019. Dieses Ergebnis ist angesichts langanhaltender Ladenschließungen bemerkenswert.
Die Buchhandlung als Kulturraum
Eine Gemeinsamkeit der erfolgreichen Buchhandlungen ist, dass eine klare Vision haben: Einen Kulturraum zu schaffen. Einen Ort, an dem sich Gleichgesinnte treffen, sich austauschen und inspiriert werden, Neues zu lernen. Diese Buchhandlungen sind mehr als eine Verkaufsstelle für Bücher. Sie verstehen sich als Szenetreffpunkt, der über das bloße Format „Buchhandlung“ hinaus geht. So versteht sich die Buchhandlung She said in Berlin Neukölln als ein Treffpunkt für feministische und LGBTQ Kunden, ihr Café ist für seine selbst gebackenen Zimtschnecken und Focaccia berühmt. Die Kunden sind bereit, zum Teil 1,5 Stunden Wartezeit in Kauf zu nehmen, um die Buchhandlung – in Corona-Zeiten mit begrenzter Personenzahl – zu besuchen.
Es zeigte sich, dass Buchhandlungen, die einen derartigen Ansatz schon vor der Corona-Krise verfolgten, besonders profitieren konnten. Etwa konnte die Buchhandlung Krumulus, ebenfalls mit Sitz in Berlin, auf die in der Vergangenheit geknüpften Kontakte zurückgreifen. Allein im Jahr 2019 veranstaltete Krumulus 380 Veranstaltungen. Neben den für Buchhandlungen klassischen Lesungen erstreckte sich das Programm auf kulturelle Begegnungen im weiteren Sinne einschließlich künstlerischer und kreativer Ansätze, darunter Ausstellungen sowie Kunst und Musikkurse.
Das Beispiel der Buchhandlung Wellmann zeigt, dass sich kreative Ideen auch außerhalb urbaner Zentren realisieren lassen. Die Buchhandlung Wellmann liegt im niedersächsischen Landkreis Oldenburg in Wardenburg, die mit ca. 16.000 Einwohnern ländlich geprägt ist. Passend zur örtlichen Lage versteht sich die Buchhandlung als Rückzugsort mitten im Grünen und bietet, passend zur Rückbesinnung auf die Natur, „Sternstundenabende“ und Picknicke an.
Die Notwendigkeit starker Persönlichkeiten
Eine weitere Gemeinsamkeit erfolgreicher Buchhandlungen sind starke Buchhändler-Persönlichkeiten. Und damit verbunden: eine klare Vision und Leidenschaft, die auch nach außen kommuniziert werden.
Stellvertretend kann man die Inhaberin der Buchhandlung Glücksbuchladen in Wuppertal, Kerstin Hardenburg, zitieren, die sie seit der Gründung im Jahr 2014 alleine führt. Zu ihrem beachtlichen 30%-igen Umsatzwachstum in 2020 sagt sie:
„Das ist gerade für mich wie Weihnachten, auch umsatztechnisch. Ich habe aber auch das Gefühl, dass ich jetzt ernte, was ich die Jahre über eingebracht habe. Ich bemühe mich um jeden einzelnen Kunden auch schon vorher und das zahlt sich jetzt aus. Ich habe das Gefühl aufgefangen zu werden. Es ist tatsächlich wie eine große Gemeinschaft. Es war für mich nie nur „ein Laden“. Deswegen war meine Angst am Anfang ja so groß. Ich hätte nicht nur meinen Lebensunterhalt verloren, sondern mein Leben. Das klingt zwar jetzt theatralisch, aber das, was ich hier aufgebaut habe mit dem Laden, mit den Veranstaltungen ist mehr als ein reiner Buchladen. Das ist ein Treffpunkt hier geworden. Gerade auch zu den Veranstaltungen und das hat man jetzt so gemerkt, dass die Leute hier nicht nur her kommen, um Bücher zu kaufen, sondern, dass das mehr ist. Da kommen die Leute an mit Kaffee, mit Kuchen mit Mitbringseln, mit Geschenken und und und…“
Auch die Buchhandlung Das Buch am Markt in Miesbach verfügt über langjährige Mitarbeiter, die sich jeweils ein eigenes großes Netzwerk aufgebaut haben. Das Netzwerk der Mitarbeiter und die aufgebauten Beziehungen wirken für die Buchhandlung wie ein starker Kunden-Magnet.
Spezialisierung und Expertentum
Das Alleinstellungsmerkmal, das Amazon & Co. nicht bieten können, ist gute und individuelle Beratung. Darin liegt eine Kernkompetenz, die von den Buchhandlungen mit positiver Bilanz erkannt und genutzt wird.
Die Buchhandlung Ein guter Tag aus Schwerin spielt diesen Vorteil aus, indem sie Buchhändler mit komplementären Schwerpunkten einsetzt, um für möglichst viele Bereiche einen Experten bereitstellen zu können. Die Inhaberin Sannah Wagner-Göttsch sagt knapp: „Wir lesen eben nicht nur die Klappentexte.“ Das Hauptaugenmerk der Mitarbeiter liegt darauf, kenntnisreich zu beraten und die Präferenzen jedes Stammkunden zu kennen, um auf entsprechend darauf eingehen zu können.
Auch die Buchhandlung Seeseiten aus Wien setzt auf Expertise der Mitarbeiter. Der Inhaber Johannes Kößler sagt: „Es ist auch eine Strategie, dass die Mitarbeiter, die hier angestellt sind, jeder einen anderen Geschmack und einen anderen Schwerpunkt haben. Jeder hat seinen Kompetenzbereich. Und die Kunden möchten daher auch oft Empfehlungen von einem bestimmten Mitarbeiter haben.“
Experimentierfreude und Agilität
Auch wenn die Buchbranche bislang nicht oft als Beispiel für Innovation hervorgehoben wurde, gibt es allein in der Untersuchungsgruppe mehre Belege für die Kreativität, den Ideenreichtum und die Anpassungsfähigkeit der Akteure. Während der COVID-19 Krise konnten Unternehmen der Buchbranche vielfach den Erfolg ihrer unternehmerischen Initiativen unter Beweis stellen. Die erfolgreichen unter den untersuchten Buchhandlungen zeigten eine enorme Bereitschaft, neue Geschäftsmodelle zu erproben, weniger erfolgreiche Modelle anzupassen oder einzustellen und erfolgreiche Ansätze weiter auszubauen. Auch wurden Kunden ins Zentrum der Entscheidungen gerückt. Wünsche, Anregungen und Feedback gingen dem Handeln voraus und führten zu einer klaren Handlungslinie.
Die Buchhandlung Lünebuch aus Lüneburg lieferte Bestellungen schon vor der Pandemie am selben Tag und bis 21 Uhr aus – also zu Uhrzeiten, in denen Berufstätige typischerweise daheim anzutreffen sind. Darüber hinaus etablierte sie weitere Alternativen in Form von Abholstationen in Edeka-Märkten und Sparkassen-Filialen und schaffte damit eine kluge Erweiterung des letzte Meile-Service.
Als Reaktion auf die Corona-Einschränkungen entwickelte die Buchhandlung Graff aus Braunschweig sog. „Vorbesteller-Signieraktionen“. So konnten Kunden trotz der geltenden Kontaktbeschränkungen signierte und personalisierte Bücher erwerben. Das Besondere: man fokussierte sich auf jugendliche Leser mit starken emotionalen Beziehungen zu den Autoren. Ein Fan-Service, der von der jungen Kundschaft dankend angenommen wird. Der Geschäftsführer Frederik Wrensch sagt: „Das ist ein riesiger logistischer Aufwand. Große Unternehmen wie Thalia können und wollen das gar nicht leisten, weil das einfach so eine große Änderung ihrer Abläufe ist. Dadurch, dass mein Unternehmen familiär geführt ist, kann ich viel, viel schneller auf Veränderungen reagieren und sie umsetzen.“
Der kleine Verlag im Eigenvertrieb Ein guter Plan launchte ein Krisentagebuch mit Tipps gegen negative Gefühle, bereitete Pandemie-adäquaten Extra-Content in den Social Media Kanälen auf und entwickelte ein Malbuch zum Entspannen. Seine Social Media Community konnte der Verlag allein auf Instagram in 2020 von 90.000 auf 160.000 Follower steigern, und das bei einer beachtlichen Engagement Rate von 5%.
Auch She said schaffte es, sich innerhalb eines Jahres eine Community von 30.000 Followern auf Instagram aufzubauen, indem sie sie von Anfang an mitnahmen, den Aufbau und die Eröffnung der modernen und edgy Buchhandlung zu begleiten. She said wie auch viele andere verstehen es, Kunden online einzubeziehen und mitwirken zu lassen.
Aufgrund der regulatorischen Vorgaben, die Veranstaltungen im Innenraum unmöglich machten, verlegte Kerstin Hardenburg vom Glücksbuchladen ihre Veranstaltungen ins Freie und kooperierte mit einem benachbarten Weinhändler, der ihr seinen großflächigen Außenbereich zur Verfügung stellte. Da die Weinhandlung – als Lebensmittelhandlung – von Schließungen nicht betroffen war, vereinbarte sie mit dem Weinhändler die Einrichtung einer Abholstation für Bücher während der Schließung ihrer Buchhandlung.
Die Buchhandlung Lüders aus Hamburg führte sog. „Survival Kits“ ein. Dabei handelte es sich um individuelle literarische Überraschungspakete unterschiedlichen Wertes, deren Inhalt dem Käufer nicht bekannt war. Es wurden Pakete im Wert von bis zu 1000€ angeboten. Tatsächlich wurden auch zahlreiche Pakete der obersten Preiskategorie verkauft.
Fazit
Abschließend ist zusammenzufassen, dass sich die in der Corona-Krise erfolgreichen Buchhandlungen und Verlage durch zumindest eine der folgenden Konstanten auszeichneten:
- Sie hatten sich schon vor der Pandemie eine hohe Kundenbindung erarbeitet.
Die über Jahre geleistete Vorarbeit gewährleistete die Loyalität der Kunden in der Krise. Diese Loyalität erreichten sie, indem sie bereits im Vorfeld Mehrwerte für ihre Kunden schafften. Im Kern ist diese starke Kundenbindung auf die oben genannten Aspekte zurückzuführen: Die Etablierung der Buchhandlung als Kulturraum, das Setzen auf starke, charismatische Persönlichkeiten, das Hervorheben von individueller Beratung und Expertentum und Experimentierfreude noch vor der Corona-Krise.
- Sie waren während der Krise innovativ und pflegten eine explorative Unternehmenskultur.
Im Kern setzten erfolgreiche Akteure auf den Trial & Error Ansatz, der typischerweise mit der Strategie von Start ups in Verbindung gebracht wird. Die erfolgreichsten der untersuchten Branchenteilnehmer handelten im Einklang mit diesen Prinzipien, indem sie auf die neuen Herausforderungen der Corona-Krise schnell reagierten. Sie besaßen genug Mut, neue Ideen einfach auszuprobieren. Ebenfalls zeigten sie eine hohe Bereitschaft, nicht funktionierende Ideen entweder anzupassen oder einzustellen und durch andere neue Konzepte zu ersetzen.
- Sie richteten sich nach den Bedürfnissen und Wünschen der Kunden.
Den neuen Geschäftsfeldern oder ihren Erweiterungen lagen meist eher qualitativ als quantitativ erhobene Daten zugrunde, die im Rahmen eines aktiven Kundendialogs gewonnen wurden. Die Kunden wurden in den Entscheidungsprozess involviert und aktiv nach ihren Bedürfnissen und Wünschen befragt, so dass neue Prozesse auf Basis des zumeist ebenfalls qualitativen Feedback entwickelt werden konnten.
1 Quelle: BEV – Bundesverband E-Commerce und Versandhandel
2 Quelle: Textilwirtschaft
Mit Unterstützung der Studierenden der LMU München:
Sarah Brebeck, Anke Buhr, Jessica Casini, Luna van Eikelen, Luise Graf, Emma Maske, Mirjam Papperitz, Michaela Weiß